Reise nach Rio Grande do Sul, Brasilien, 8.9. -25.9.2017

Markus Schermer

Im September 2017 hatte ich die Gelegenheit, den Bundesstaat Rio Grande do Sul in Brasilien zu besuchen. Anlass war die Teilnahmen an einer „Escola de Iverno“ für Doktorandinnen, die vom Institut für Geographie der Universität Innsbruck gemeinsam mit drei brasilianischen Universitäten in Santa Cruz abgehalten wurden. Gleichzeitig ergab sich damit die Gelegenheit, an einer Konferenz zu Themen der Regionalentwicklung teilzunehmen und an der Universität von Porto Alegre bei der „Forschungsgruppe für Regionalentwicklung und bäuerliche Familienbetriebe“ einen Vortrag zu halten. Da ich gemeinsam mit Prof Martin Coy, einem langjährigen Brasilienexperten und Professor für Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Innsbruck die Reise unternahm, war es mir möglich verschiedene Regionen von Rio Grande do Sul kennenzulernen. Rio Grande do sul ist der südlichste Bundesstaat Brasiliens und grenzt an Argentinien und Uruguay. Er ist sicher der europäischste Teil Brasiliens, gibt jedoch einen ersten Eindruck dieses so zwiespältigen Landes. Prof. Coy konnte mir nicht nur sprachliche Barrieren ebnen, sondern auch länderkundliche und fachliche Hintergründe erläutern.

Die Reise begann in Porto Alegre, der Stadt des Weltsozialforums und der Gaucho Kultur. Bereits darin zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Landes. Die Kultur der Gauchos mit einem sehr traditionellen Bezug zur Rinderhaltung trifft hier auf neue soziale Bewegungen, eine Begegnung, die nicht immer friktionsfrei verläuft. Die Fahrt von Porto Alegre in das Bergland, wo eine gemeinsame Dissertantin zur institutionellen Einbettung des Queiju de Serrano forscht, führt durch deutsches Siedlungsgebiet mit Städten wie Nova Hamburgia oder Teutonia. Hier siedelten sich vor ca. 150 Jahren deutsche Auswanderer aus dem Hundsrückgebiet in Mitteldeutschland an. Im Bergland selbst sind es vorwiegend portugiesisch-stämmige Bäuerinnen und Bauern, die wesentlich früher einwanderten. Sie bewirtschaften ausgedehnte Weidegebiete, die früher in einer Art Almwirtschaft saisonal genutzt worden waren, bis sie durch die Verwendung von weideverbessernden Einsaaten zu Dauersiedlungsgebieten wurden. Die Bäuerinnen und Bauern wirtschaften aber nach wie vor sehr extensiv mit traditionellen Zweinutzungsrassen. Im Durchschnitt werden 90 Rinder pro Betrieb auf 100 ha gehalten. Davon werden ca. 15 Kühe einmal täglich gemolken (eigentlich teilen sich die Bauern die Milch mit den Kälbern, die bis zu einem Jahr am Euter saugen). Aus dieser Milch entsteht ein Schnittkäse der nur halblegal vermarktbar ist. Eigentlich darf er erst nach zweimonatiger Reifung und dann nur lokal innerhalb der Großgemeinde vermarktet werden. Inzwischen ist allerdings der lokale Konsumgeschmack auf einen frischeren Käse getrimmt worden und die weiter entfernten Märkte dürfen auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht beliefert werden. Daraus entsteht ein Dilemma für die subsistenzorientierten Betriebe, die aus dem Käseverkauf ca. 60% des Einkommens erwirtschaften. Ziel ist es daher, eine regionale geschützte Herkunftsmarke eintragen zu lassen und damit den Verkauf in den Zentren zu legalisieren.

Am nächsten Tag besuchten wir das Vale dos Vinhedo, in dem sich 40 italienischstämmige Weinbauern zu einer Weinstrasse zusammengeschlossen haben. Hier herrscht eine hohe Professionalität und Internationalität vor. Moderne Enotecas orientieren sich auf die finanzkräftige brasilianische Oberschicht. Auf Grund der Dichte der teilnehmenden Betriebe und der kleinregionalen Ausformung kann man hier schon fast von einem Themenpark der Weinkultur sprechen.

Die dritte Station der Reise war schließlich Santa Cruz, das auf einer deutschen Siedlungsgeschichte aufbaut und vom Tabakanbau dominiert wird. Phillip Morris sponsert dort auch das zweitgrößte Oktoberfest Brasiliens. Bei der Exkursion der Escola de Iverno konnten wir Familie Weber besuchen, die einen Biobauernhof führt und noch „Hundsrückdeutsch“ spricht. Auf Grund des Schulküchenprogramms des früheren Präsidenten Lula de Silva haben lokale Biobetriebe einen relativ guten und geschützten Markt gefunden. Familie Weber ist in einer Gruppe von sechs weiteren Biobetrieben organisiert, die gemeinsam gruppenzertifiziert werden. Herr Weber leitet die Zuckerrohrverarbeitung für die Gemeinschaft und verarbeitet mit dem Zucker das lokale Obst zu einer Marmelade, die unter dem (für uns nicht ganz attraktiven) Namen „Schmier Colonial“ reißenden Absatz findet. Interessant ist insgesamt, dass der Begriff „Colonial“ in Brasilien durchaus positiv konnotiert ist und zur Vermarktung der Siedlungsvergangenheit über Inlandstourismus eingesetzt. Schließlich besuchten wir auch noch die „Colonia Nova“ in der Region von Ijui, wo großflächig Getreide und Soja angebaut wird. Allerdings sind die Flächen nicht so riesig wie weiter im Norden, die Landschaft sieht eher wie im Alpenvorland aus. In Ijui wurde nach der Neurodung in der 1960er Jahren eine der größten Genossenschaften Lateinamerikas gegründet (COTRIJUI), die die Vermarktung von zunächst Weizen und später Soja übernommen hatte und daneben Verarbeitungsanlagen und Supermärkte führte. Auf Grund von problematischen Finanzspekulationen ging sie allerdings vor ca. 20 Jahren fast bankrott und musste ihre Trainingsfarm an die Universität abgeben. Die Universitäten von Ijui und Santa Cruz sind sogenannte Unversidades Comunitarias, die sehr der regionalen Entwicklung verpflichtet sind. Die Farm dient daher auch als Baumschule und zur Entwicklung von angepassten Agrarsystemen. Von Ijui reiste ich schließlich mit dem Überlandbus wieder nach Portro Alegre zurück, um meinen Vortrag vor Institutsmitgliedern und Postgraudierten des Institutes für Soziologie zu halten. Prof Sergio Schneider, der Leiter der Forschungsgruppe für Regionalentwicklung und bäuerliche Familienbetriebe, wird im kommenden Jahr den internationalen Kongress „Agriculture and Food in an Urbanizing Society“ organisisieren. Brasilien  und Porto Alegre ist für dieses Thema sicherlich ein optimaler Ort. Die Landwirtschaft entwickelt sich extrem auseinander in international exportorientierte Agrobusiness Unternehmen auf der einen und bäuerliche Familienbetriebe mit oft noch erstaunlicher Subsistenzorientierung auf der anderen Seite. Vielleicht konnte ich durch diesen kurzen Abriss meiner Reise manchen ÖGA-Mitgliedern die Gelegenheit schmackhaft machen, an dem Kongress teilzunehmen. Ich selbst werde auf jedem Fall versuchen, dabei zu sein.

Link Congress: http://www.agricultureinanurbanizingsociety.com/en/agurb-en/

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